Kriege in Osteuropa


Mittwoch, 17. Oktober 2018

Bild oben: Im Tuschino-Lager von Sergej Iwanow (1896 entstanden) – Tuschino war ein Dorf unweit Moskaus (heute in die Großstadt eingemeindet) und diente dem zweiten „Falschen Dimitri“ als Hauptquartier, bis dieser vertrieben wurde.


Wir danken herzlich Kolyan Ionow, der uns nicht nur sein großartiges Video zur Verfügung gestellt, sondern sich dankenswerterweise auch die Zeit genommen hat, unsere Erkenntnisse über das russische Militärwesen der frühen Neuzeit zu prüfen. Spasibo, Kolyan.

 

Bevor man sich an die russische Marsch- und Schlachtordnung macht, muß man erst einmal mit einigen Vorurteilen, Verdrehungen und Unwahrheiten aufräumen, wie sie vor allem im englischsprachigen Raum und bei ihren Nachahmern besonders bei uns, immer wieder antrifft

 

Darunter sind vor allem zu nennen:

 

1. Die russische Armee besteht keineswegs vor allem aus Massen an Reiterei und etwas Infanterie, den Strelitzen. In Wahrheit übersteigt oftmals der Anteil einer Armee an Fußvolk deutlich den an Kavallerie. Und bei ersteren handelt es sich keineswegs nur um Strelitzen.

 

2. Die russische Armee ist keineswegs eine asiatisch geprägte, fernab von west- und mitteleuropäischen Errungenschaften. Zugegeben, dank der langen Besetzung durch die Mongolen und deren Nachfolgern, haben die Russen bei ihnen einiges abgeschaut, aber sie verstehen es wie kein anderes Volk, sich auf andere Taktiken und Kampfstile einzustellen, wie ihre zum Teil eindrucksvollen Siege gegen die nichtasiatischen Armeen der Polen und Schweden belegen.

 

3. Die Russen haben jede Schlacht verloren (eine zugegeben nicht ganz so häufig zu findende Geistesverirrung). Dann gäbe es das Land heute sicher nicht mehr, oder? Die Russen haben viele Schlachten verloren, aber ausreichend vom Gegner gelernt, um sich umzustellen und beim nächsten oder übernächsten Mal den Sieg davonzutragen. Und sie haben sehr lange (länger als andere) gebraucht, um (militärisch) das Mittelalter hinter sich zu lassen und in die Neuzeit zu gelangen.

 

Bild oben: Gemeinfreie Karte der Schlacht. Oben greifen die Polen an

 

 

Sehen wir uns die Lage zu Anfang des 17. Jahrhunderts an:

 

Im 15. Jahrhundert ändert sich die bisherige Marschordnung der Polki (unser deutsches Wort „Pulk“ leitet sich davon ab). Bis dahin setzt sich eine Armee, ein Korps oder ein anderer großer Verband aus drei Polki zusammen Linke Hand, Rechte Hand und Große Abteilung. Nun marschiert eine Armee wie folgt:

 

Storoschewoi oder Wach-Polk (Avantgarde), Bolschoi Polk (Große oder Hauptabteilung), Prawoi Ruk (rechte Hand, rechter Flügel), Ljäwoi Ruk (linke Hand, linker Flügel) und Satylny/Sadny/Sapadny oder Hinterhalt-Polk (Arrieregarde, Nachhut). Die Polki sind unterschiedlich stark, am kleinsten ist normalerweise der Storoschewoi am größten der Bolschoi Polk (wir alle kennen das Bolschoi-Theater, das heißt auf Deutsch einfach Großes Theater). Polk setzen sich (bis auf die Vorhut) aus Fußvolk und Reitern zusammen. Schon von daher verbietet sich die im Englischen vorherrschende Übersetzung Brigade, da die ja nur aus einer Waffengattung besteht.

 

Vorn und an den Seiten reiten Storoschi, leichte Kavallerie-Abteilungen die die Gegend und den Feind erkunden und Gefangene („Zungen“) machen sollen. Dann kommt die Vorhut, die rechte Hand, das Große Regiment mit dem Hof, die linke Hand und endlich die Nachhut. Zwischen dem Groß-Polk und der Arrieregarde bewegt sich der Wagenzug.

 

Wenn es zur Schlacht kommt, stehen der Fürst und sein Hof mitsamt dem Banner im Zentrum, links und rechts davon die beiden Hände. Vorn befindet sich die Avantgarde, hinten die Arrieregarde als Reserve (oder sie legt sich in einen Hinterhalt). Bietet sich eine günstige Gelegenheit, können sich auch die linke und/oder die rechte Hand auf die Lauer legen.

 

Bild oben: Gemeinfreies Gemälde einer Armee auf dem Marsch.



Die Schlacht wird von der Vorhut eröffnet, die auf den Feind einstürmt und den Zweikampf sucht. Brechen die Russen in die Reihen des Gegners ein, kommen die beiden „Hände“ hinzu und greifen möglichst an den Flanken an, um den Gegner noch weiter zu schwächen.

 

Sollte der Angriff der Storoschi (Avantgarde) gleich beim ersten Mal scheitern, ziehen sie sich nicht etwa zurück, um sich zu sammeln und es ein zweites Mal zu versuchen, sondern fliehen hinter das Bolschoi-Regiment.

 

Für ihre Stellung (oder ihr Nachtlager nutzen die Russen gern natürliche Hindernisse, ein Städtchen oder Dorf, ein Kloster und runden diese Befestigung notfalls durch Verhaue, Schanzen und so weiter ab. Da Rußland nicht besonders dicht besiedelt ist (vor 4-500 Jahren erst recht nicht), führen die Armeen ihre eigenen Städte mit, die „wandernden Städte“ oder Gulaj Gorod. Im Schutz einer Befestigung entwickeln die russischen Fußsoldaten eine ungeahnte Zähigkeit und Hartnäckigkeit. Wenn es dem Gegner nicht gelingt, in die Befestigung einzudringen, wird er in der Regel zurückgeschlagen. Der Feind flieht, und die russische Reiterei kommt wieder aus ihrem Sicherheitsbereich hervor. Wird sie erneut abgeschlagen, zieht sie sich wieder hinter die Befestigung zurück, und das Spiel wiederholt sich. Sollten die Fußsoldaten sich vom allgemeinen Eifer anstecken lassen, geht das meist schlecht für sie aus, denn ungeschützt auf freiem Feld unterliegen sie oft.

 

1550 führt Iwan IV. die Strelitzen ein, eine reguläre Schützentruppe als stehende Einheit (nicht unähnlich den türkischen Janitscharen). Daneben bestehen die mittelalterlichen Aufgebote der Städte und der Gutsherren fort, die in Fällen der Not gerufen werden (sie enthalten auch Infanterie, diese sind aber Irreguläre). Und es gibt die Kosaken, die als irreguläre Schützen an den Grenzen und in den Armeen Dienst tun. Weiters werden die Bauern vom Feld weg eingezogen, und die Stadtmilizen rücken aus. Fußvolk wie Reiterei sind in Klassen aufgeteilt, und dieses Thema ist so komplex, daß wir es hier nur streifen und auf einen späteren Zeitpunkt verschieben wollen.

 

Bild oben: Zusammenbau einer “Wandernden Stadt“ entnommen der Seite https://oleggg888.livejournal.com/962.html



Soldati und Reidar

 

Iwan IV. nd seine Nachfolger Boris Godunow versuchen, eine neue russische Armee nach mitteleuropäischem Zuschnitt zu schaffen, ohne jedoch die Aufgebote abzuschaffen. Er ruft Freiwillige ins Land und gewinnt auch ausländische Offiziere, die aus den Freiwilligen (ebenfalls Ausländer – Russen werden erst später zu diesen Einheiten gerufen) eigene Regimenter mit „deutschem“ Drill schaffen sollen. Es tummeln sich dort zwar Europäer aus allen möglichen Ländern, vor allem protestantischen, aber der deutsche Anteil ist der größte (deswegen „Soldati“ - von Soldaten). Die Protestanten werden deswegen bevorzugt, weil sie alle nach der oranischen Ordnung gedrillt sind, der damals modernsten in Europa.

 

Das Gleiche bei der Kavallerie: „Reidar“ (von Reiter), also Kürassiere, kommen ins Land. Die ersten Einsätze dieser fremden Truppen verlaufen nicht sehr glorreich (und für unsere heutige Schlacht spielen sie auch keine Rolle), aber im Laufe des Jahrhunderts werden die „Soldati“-Regimenter immer mehr und überholen in der zweiten Hälfte die traditionellen Aufgebote.

 

In der zweiten Hälfte verschwindet auch das bisherige Polki-System, im Smolensker Feldzug von 1632-24 wird es letztmalig urkundlich erwähnt. Zuvor wird es aber noch reformiert. Michael Fedorowitsch, der Nachfolger des Boris Godunow und der erste Romanow auf dem Zarenthron setzt setzt die Pläne seines Vorgängers in die Tat um, demnach marschiert vorneweg der Jertoul oder Jartoul mit dem Jertoul-Polk (Vortrab), ein Regiment leichter Reiterei, um das Hauptheer vor unliebsamen Überraschungen zu schützen.

 

Dann folgen Avantgarde, Hauptheer (Großes Regiment), Artillerie, Bagage und Fahrzeuge, schließlich Storeschewoi-Regiment (Arrieregarde)`. Die rechte und die linke Hand agieren für sich, manchmal in ziemlicher Entfernung vom Großen Regiment. Dazu gibt es noch das Garde-Regiment (Leibwache des Zaren, Hofbedienstete) und die Artillerie. Beide stellen sich bei der Schlacht zur Infanterie in die Befestigung.

 

 

 

In der nächsten Folge präsentieren wir das Video.